Der Fischer
von Heinrich Böll
In einem Hafen an der westlichen Küste Europas liegt ein ärmlich gekleideter Mann in seinem Fischerboot und träumt. Ein schick angezogener Tourist legt eben einen neuen Farbfilm in seinen Fotoapparat, um das idyllische Bild zu fotografieren: blauer Himmel, grüne See, schwarzes Boot, rote Fischermütze. Klick. Noch einmal: klick. Das Geräusch weckt den träumenden Fischer, der sich schläfrig aufrichtet, schläfrig nach seiner Zigarettenschachtel angelt, aber bevor er sie gefunden hat, hält ihm schon der neugierige Tourist eine Schachtel vor die Nase.
„Sie werden heute einen guten Fang machen.“
Kopfschütteln des Fischers.
„Aber man hat mir gesagt, dass das Wetter günstig ist.“
Kopfnicken des Fischers.
„Sie werden also nicht ausfahren?“
Kopfschütteln des Fischers, steigende Nervosität des Touristen. Gewiss liegt ihm das Wohl des ärmlich gekleideten Menschen am Herzen.
„Oh, Sie fühlen sich nicht wohl?“
Endlich beginnt der Fischer zu sprechen: „Ich fühle mich großartig“, sagt er. „Ich habe mich nie besser gefühlt.“ Er steht auf, reckt sich, als wollte er demonstrieren, wie athletisch er gebaut ist. „Ich fühle mich fantastisch.“
Der Gesichtausdruck des Touristen wird immer unglücklicher, er kann die Frage nicht mehr unterdrücken.
„Aber warum fahren Sie dann nicht aus?“
Die Antwort kommt schnell und kurz: „Weil ich heute morgen schon ausgefahren bin!“
„War der Fang gut?“
„Er war so gut, daß ich nicht noch einmal auszufahren brauche, ich habe vier Hummer in meinen Körben gehabt, fast zwei Dutzend Makrelen gefangen … .“
Der Fischer, endlich erwacht, klopft dem Touristen beruhigend auf die Schultern. „Ich habe sogar für morgen und übermorgen genug“, sagt er.
„Rauchen Sie eine von meinen Zigaretten?“
„Ja, danke.“
„Ich will mich ja nicht um Ihre persönlichen Angelegenheiten kümmern“, sagt der Tourist, „aber stellen Sie sich mal vor, Sie führen heute ein zweites, ein drittes, vielleicht sogar ein viertes Mal aus und Sie würden drei, vier, fünf vielleicht sogar zehn Dutzend Makrelen fangen … .“
Der Fischer schüttelte den Kopf.
„Sie würden sich in spätestens einem Jahr einen Motor kaufen können, in zwei Jahren ein zweites Boot, in drei oder vier Jahren könnten Sie vielleicht einen kleinen Kutter haben, mit zwei Booten und dem Kutter würden Sie natürlich viel mehr fangen, eines Tages würden Sie zwei Kutter haben, Sie würden …“, er begeisterte sich so sehr, dass er kaum weitersprechen kann. „Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, später eine Konservenfabrik, mit einem Hubschrauber rundfliegen, den Weg der Fischschwärme von oben erkennen und es Ihren Kuttern per Funk mitteilen! Sie könnten ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer direkt nach Paris exportieren und dann …“, wieder kann er kaum weitersprechen, kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, blickt er auf das Meer, in dem die ungefangenen Fische munter springen. „Und dann“, sagte er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache.
Der Fischer klopft ihm beruhigend auf den Rücken. „Was dann?“, fragt er leise.
„Dann“, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, „dann könnten Sie ruhig hier im Hafen sitzen, in der Sonne liegen und auf das herrliche Meer blicken.“
„Aber das tu ich ja jetzt“, sagt der Fischer, „ich sitze beruhigt am Hafen und träume, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.“
Tatsächlich ging der Tourist nachdenklich fort. Früher hatte er auch einmal geglaubt, er arbeite, um eines Tages nicht mehr arbeiten zu müssen, und es blieb kein Rest von Mitleid mit dem ärmlich gekleideten Fischer in ihm zurück, – nur ein wenig Neid.